1888 bis 1913: Start in stürmischen Zeiten

Es ist ein Jahr, in dem sich die Koordinaten für Millionen Menschen ändern. Als vor 125 Jahren, am 11. November 1888, in Reutlingen erstmals der General-Anzeiger gedruckt wird, ist Deutschland politisch-gesellschaftlich ein Land zwischen Moderne und Reaktion, zwischen preußischer Tradition und technischem Fortschritt. Innerhalb von drei Monaten werden drei Kaiser die Krone tragen. Und in Mannheim startet Bertha Benz zur ersten automobilen Fernfahrt. Wirtschaft und Kultur erleben innerhalb von 25 Jahren eine beispiellose Dynamik. Doch 1913 stehen das wilhelminische Kaiserreich und ganz Europa am Abgrund: Es ist das Jahr vor dem Ersten Weltkrieg. GEA-Chefredakteur Christoph Irion beschreibt die Epoche.

Berta Benz, Ehefrau des Automobil-Erfinders Carl Benz mit ihren Söhnen auf dem Weg zur ersten Autofernfahrt der Geschichte mit dem Benz Patent Motorwagen. (Filmszene von 1988). Foto: Mercedes-Benz Classic

Berta Benz, Ehefrau des Automobil-Erfinders Carl Benz mit ihren Söhnen auf dem Weg zur ersten Autofernfahrt der Geschichte mit dem Benz Patent Motorwagen. (Filmszene von 1988). Foto: Mercedes-Benz Classic

Es ist eine Epoche mit gewaltigen Umbrüchen und erheblichen gesellschaftlichen Widersprüchen. Das 1871 von Reichskanzler Otto von Bismarck geeinte Deutsche Reich ist ein preußisch geprägter Obrigkeitsstaat mit schneidigen Untertanen. Zugleich beeinflussen politisch und kulturell liberale Ideen sowie die Erforschung des Unbewussten durch den Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud das Denken der Menschen nachhaltig. Eisenbahn, Fotografie, elektrisches Licht, Telegraf und Automobil verändern das ganze Leben.

»Ich glaube an das Pferd. Das Auto ist nur eine vorübergehende Erscheinung«

Nie zuvor hat es in Mitteleuropa ein derart rasantes Bevölkerungswachstum gegeben. Die Landbevölkerung zieht es zu Hunderttausenden in die Industriequartiere am Rand der Metropolen. Und die Reichen genießen in Berlin, Wien, Paris und London das Leben in Kaffeehäusern, Kinos, Varietés und Tanzpalästen. Europa erlebt den Beginn der Massen- und Medienkultur – alles ist »modern«. Und Feiern ist so populär wie Militarismus. In diesem Klima schließt Deutschland zu den großen Mächten auf – am Ende wird es millionenfaches Blutvergießen in Europa geben. Doch trotz der politisch aufgeheizten Stimmung ahnen um die Jahrhundertwende nur wenige etwas von der Katastrophe des bevorstehenden Ersten Weltkriegs.

1888, das Jahr, in dem der Reutlinger General-Anzeiger erstmals erscheint, markiert in dieser Ära einen echten historischen Wendepunkt – in den Geschichtsbüchern ist es verzeichnet als »Dreikaiserjahr«: Innerhalb von nur 99 Tagen tragen drei Kaiser aus drei Generationen die Krone des Deutschen Reiches: Wilhelm I, Friedrich III. und Wilhelm II. – »der greise Kaiser, der weise Kaiser und der Reisekaiser«, wie der Volksmund damals dichtet.

Wilhelm I. mit dem Backenbart ist schon zu Lebzeiten eine Legende: soldatisch erzogen, stockkonservativ, aber volksnah. Fast 91 Jahre alt ist Wilhelm, als er am 9. März sanft einschlummert. Seinen politischen Ruhm verdankt er dem genialen Otto von Bismarck an seiner Seite. Man nennt diesen den »Eisernen Kanzler«, einen »Magier der Macht«: Der preußische Junker gilt als größter Politiker des 19. Jahrhunderts. Einer ganzen Epoche hat er seinen Stempel aufgedrückt. Bismarck sieht Politik als »die Kunst des Möglichen«, das Parlament empfindet er als »Quasselbude«. Der Kanzler ist vor allem genervt von der neu gegründeten SPD, die sich als Arbeiterpartei und Anwalt der Verlierer versteht: Da es ihm mithilfe der »Sozialistengesetze« Ende der 70er- Jahre nicht gelungen ist, diese neue Kraft einzudämmen, etabliert Bismarck von Staats wegen eine Krankenversicherung und eine Rentenkasse – diese Gesetze werden zur Initialzündung für den modernen Sozialstaat. Das über Jahrhunderte in einen Flickenteppich von Einzelstaaten zersplitterte Reich hat Bismarck mit »Blut und Eisen« geeint, wie er es nennt. Sein kluges Bündnissystem verändert die Landkarte Europas.

Kaiser Wilhelms Sohn, Kronprinz Friedrich III. (geboren 1831) ist liberalen Ideen gegenüber aufgeschlossen. Doch als der Alte stirbt und die Zeitenwende ansteht, ist es zu spät: Der Thronfolger ist eine tragische Figur, nicht nur, weil er zu Depressionen neigt und bislang nur bei Kostümfesten auftreten durfte. Kehlkopfkrebs ist die Diagnose, die er 1887 erhalten hat. Als der Vater stirbt, ist auch er vom Tode gezeichnet. Seine 14-wöchige Regentschaft ist nur von statistischer Bedeutung. Am 15. Juni 1888 folgt Wilhelm II. auf den Thron: Ein 29-jähriger reaktionärer Heißsporn, der lieber herrschen als regieren will und sich als Reinkarnation von Friedrich dem Großen sieht. Abgeordnete bezeichnet der junge Kaiser als »Hundekerle«. Bismarck nennt ihn einen »Brausekopf« – dafür wird der Kanzler nach zwei Jahren in Rente geschickt. 

Nicht nur politisch-historisch vollzieht sich im GEA-Geburtsjahr 1888 ein einschneidender Wandel. In Mannheim stößt am 5. August eine 39-jährige, unternehmerisch und technisch begabte Frau die Tür in eine Zukunft auf, die die Welt verändern wird. Bertha Benz ist die Ehefrau des Ingenieurs Dr. Carl Benz, der ein dreirädriges Fahrzeug mit Verbrennungsmotor und elektrischer Zündung zum Fahren gebracht hat. Der »Benz Patent-Motorwagen« von 1886 gilt als erstes Automobil. Doch kaufen mag das Auto kaum jemand. Als Bertha Benz zwei Jahre danach mit ihren beiden Söhnen mit der pferdelosen Kutsche zur ersten Auto-Fernfahrt aufbricht, ist ihr Mann nicht eingeweiht. Die Pionier-Fahrt über 106 Kilometer nach Pforzheim gerät zum Nachweis für die Alltagstauglichkeit der Motor-Kutsche – getankt wird in Apotheken, wo es Wundbenzin gibt. 

»Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung«, verkündet Wilhelm II. um 1900. Er irrt: 1907 sind im Reich 10 000 Personenmotorwagen gemeldet, 1914 werden es 61 000 sein. Und der stolze Kaiser wird 25 Automobile sein Eigen nennen. Unter Historikern ist heute unbestritten, dass »Wilhelm Zwo« durch seinen großsprecherischen und chauvinistischen Charakter bei gleichzeitiger politischer Inkompetenz entscheidend zur Verschärfung der internationalen Spannungen beigetragen hat. Kriegsschiffe sind ihm wichtiger als Sozialprogramme.

»Der Wunsch, eine ebenso prächtige Marine zu besitzen wie die englische«

Und so fordert er das britische Empire heraus. Wilhelm will Deutschland als Kolonialmacht. Und wie ein kleiner Junge seine Modellbahn liebt, ist der Kaiser vernarrt in Torpedoboote und Panzerkreuzer. Der englische König darf sich 1904 auf der Kieler Förde alles anschauen, was die Kaiserliche Marine zu bieten hat. Ziel ist es, den Engländern einen »überwältigenden Begriff von unserer Seemacht beizubringen«. Wilhelm bekennt freimütig, schon als Kind sei es sein Wunsch gewesen, »eines Tages eigene Schiffe zu bauen und eine ebenso prächtige Marine zu besitzen wie die englische«. 

Wettrüsten als Spaßfaktor – doch öffentlichen Widerspruch gibt es kaum. Im Gegenteil: Der forsche Monarch kommt gut an bei den Untertanen. Sein marine-militärischer Faible ist stilbildend für die Mode: Junge Frauen und Kinder kleiden sich mit Vorliebe in den Trendfarben blau-weiß. Kaum ein Familienfoto aus jener Zeit, auf dem die Kleinen nicht im Matrosen-Look zu sehen wären.

Die Künstler der Epoche halten sich allerdings nicht an wilhelminische Werte. Der mit blumigen Ornamenten überzeichnete Jugendstil passt so gar nicht zu Wilhelms Vorliebe fürs Schöne und Hehre. Und die »schönste Frau Wiens« betört eine ganze Künstlergeneration. 31 Jahre alt ist Alma Mahler, als 1910 ihr Mann, der Komponist Gustav Mahler, stirbt. In den nächsten Jahren werden ihr jede Menge Promi-Herren aus der Literatur-, Kunst- und Musikszene zu Füßen liegen: Sie heiratet den Star-Architekten Walter Gropius, später Franz Werfel. Hingerissen sind auch Oskar Kokoschka und Gerhard Hauptmann – Alma Mahler-Werfel wird Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts beeinflussen. 

Der berühmte Soziologe Max Weber wird diese Ära beschreiben mit den Worten »Entzauberung der Welt«. Als am 15. April 1912 im Eismeer vor Neufundland der als »unsinkbar« titulierte Luxus-Liner »Titanic« auf seiner Jungfernfahrt sinkt und 1 513 Menschen mit in den Tod reißt, ist der Fortschrittsglaube der Epoche angekratzt. Die Intellektuellen der Welt überbieten sich in Prophezeiungen, der »große Krieg«, der oft in der Luft lag, werde wohl »nie kommen«. Am 29. Juni 1913 verabschiedet der Reichstag die »Wehrvorlage«: Die »Friedenspräsenzstärke« wird um 117 267 auf 661 478 Mann erhöht. (GEA)
So geht es weiter
125 Jahre GEA – was geschah in diesen eineinviertel Jahrhunderten in der Welt, in Deutschland, in der Region? »Zeit der Bewährung« – so lautet der Titel der zweiten Folge unserer fünfteiligen Jubiläumsserie, die am Montag, 15 Juli, erscheint.

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