AUS RIO DE JANEIRO BERICHTET CHRISTOPH FISCHER
Maracaná war ein Sinnbild Brasiliens, vor der Weltmeisterschaft wurde es ein Symbol des Widerstandes. 1950 für die Weltmeisterschaft als größtes Stadion, das die Welt jemals sah, erbaut, galt das Maracaná als der „Ort des Volkes“. „Das ist es nicht mehr“, sagt Mario Jorge Lobo, genannt Mario Zagallo, der erste und einzige neben „Kaiser“ Franz Beckenbauer, der als Spieler und Trainer Fußball-Weltmeister war. „Das alte Maracaná ist tot“, fügt der 82 Jahre alte Nationalheld traurig hinzu.
650 Familien mussten umgesiedelt werden, nachdem der Weltverband Fifa die Renovierung des Maracaná forderte. Ein kleiner Fluss gab dem Stadion den Namen, von dem sieht man heute nichts mehr. Eine Favela musste umquartiert werden, weil für das Stadion Parkplätze benötigt wurden. Und trotz allem Widerstand hat dieses Stadion weltweit nicht an Anziehungskraft verloren. „Ich wünsche mir so sehr, in diesem Stadion zu spielen. Das Maracaná ist etwas, vielleicht alles, das ein Fußballspieler erreichen will“, sagt André Schürrle vom FC Chelsea fast andächtig vor dem Viertelfinale der deutschen Nationalmannschaft gegen Frankreich.
Dieses Stadion erlebte Höhenflüge von Fluminense und Flamengo Rio de Janeiro, Edson Arantes di Nascimento, genannt Pelé, schoss in diesem Stadion sein 1000. Tor. Im Maracaná sang Frank Sinatra vor über 200000 Menschen, Papst Johannes Paul II las in diesem Stadionrund die größte Messe, die Lateinamerika jemals sah.
Über 200000 Menschen sahen 1950 bei der Weltmeisterschaft ein Spiel, das eine ganze Nation über Tage und Wochen in der Schockstarre zurückließ. Alcides Gigghia erzielte im entscheidenden Spiel um die Weltmeisterschaft damals das zweite Tor für Uruguay zum 2:1. Und erzählte später, wann immer er danach gefragt wurde: „Ich war der einzige neben Frank Sinatra und dem Papst, der dieses Stadion zum Schweigen gebracht hat.“
Das Land stürzte 1950 in Trauer. Niemand unter den 200000 Menschen hielt es damals für möglich, dass Uruguay den Brasilianern den Titel entreißen könnte. Adémir Marques de Menezes, genannt Adémir, war damals 27 Jahre alt und einer der prägenden Spieler des Weltfußballs. Neun Tore hatte er bei der Weltmeisterschaft erzielt, vier allein gegen Schweden. Im letzten Spiel gelang ihm keines. „Wir waren schon vorher Weltmeister, haben wir gedacht, das war ein legendärer Fehler.“ Adémir beendete seine Karriere nur wenig später und wurde Journalist. Er hätte auch Schauspieler werden können, der ehemalige Kicker-Herausgeber Friedebert Becker beschrieb Ademir 1950 als „Abgott“, als er ihn spielen sah.
100 Millionen Säcke Zement und 10000 Tonnen Eisen waren für den Bau des alten Stadions notwendig. Ein „Ort des Volkes“ wurde das Maracaná genannt, weil man schon für fünf Real hineinkam. 2014 kostet der billigste Platz 30 Real, es gibt davon nur noch wenige, und in den Ehrenlogen wird heute von Stars und Sternchen der Champagner aus langstieligen Gläsern geschlürft. Und wenn der Präsident des Fußball-Weltverbandes Fifa davon schwärmt, das jeder Stein des neuen Stadions „die Atmosphäre des alten atmet“, steht er in Brasilien damit allein. Vor der Weltmeisterschaft war das Stadion ein Ort des Widerstandes, Zehntausende gingen gegen die Renovierung auf die Straße, die in den Zeitungen als „Mord an Maracaná“ gebrandmarkt wurde.
Und trotzdem. Trotz aller berechtigten Kritik bleibt das Stadion, das aktuell 74000 Zuschauern Platz bietet, eine Pilgerstätte. Nur 14 Meter sind die ersten Sitzreihen vom Rasen entfernt, umgerechnet fast 500 Millionen Euro kostete die Brasilianer eine Renovierung, die keiner wollte. Pelé, Garrincha, Adémir, Zico, Socrates, Romario, Ronaldo, alle Großen des brasilianischen Fußballs spielten hier. In diesem Stadion traf der weiße reiche Süden auf den armen schwarzen Norden des Landes, dieses Stadion war ein Schmelztiegel, in dem alle nur brasilianische Fußball-Fans sein konnten. „Ich habe nie Worte für die Faszination dieses Stadions gefunden, aber ich habe sie immer gespürt“, sagt Mario Zagallo.
Als im Mai das Duell zwischen Fluminense und Flamengo stattfand, das Millionen in diesem Land elektrisiert, zahlten nur unvorstellbare 28178 Zuschauer Eintritt. Das alte Stadion wäre aus allen Nähten geplatzt. „O Maraca e nosso“ („das Stadion gehört uns“) skandierten Zehntausende Demonstranten vor den Toren des Duells. (GEA)